
Stefanie Stahl, die gefeierte Bestsellerautorin und eine der gefragtesten Psychologinnen Deutschlands, ist bekannt für ihre inspirierenden Erkenntnisse über zwischenmenschliche Beziehungen. Im großen Grazia-Interview gewährt sie uns einen tiefen Einblick in die psychologischen Mechanismen von Liebe und Partnerschaft. Wir erfahren, warum die Verliebtheitsphase mehr ist als nur rosarote Brille und Schmetterlinge im Bauch und weshalb Streit in Beziehungen nicht die Harmonie stört, sondern sie tatsächlich vertiefen kann. Die Autorin rät nämlich: "Jetzt streitet euch doch endlich mal!".
Grundlagen für frisch Verliebte
Grazia: Welche Tipps haben Sie für frisch Verliebte, um eine stabile Grundlage für eine dauerhafte Beziehung zu schaffen?
Stefanie Stahl: Frisch Verliebte sollten sich von Anfang an bewusst machen, dass die Verliebtheitsphase eine wertvolle Zeit sein kann, in der man die Basis für eine stabile Partnerschaft legen kann. Wohlgemerkt sein kann; denn dies setzt zunächst voraus, dass beide die grundsätzliche Bereitschaft zu einer längerfristigen Beziehung haben. Es ist wichtig, authentisch zu bleiben und sich nicht hinter einer perfekten Fassade zu verstecken. Der Fokus sollte darauf liegen, die andere Person wirklich kennenzulernen, statt zu versuchen, Erwartungen zu erfüllen. Man sollte sich selbst und dem anderen Raum geben, auch mal Unsicherheiten oder Schwächen zu zeigen, denn wahre Nähe entsteht durch gegenseitiges Vertrauen und das Gefühl, sich ganz zeigen zu dürfen. – Das Ganze sollte allerdings nicht in einer Art "Abarbeiten von Regeln" ausufern, denn verliebt ist verliebt, und die Neugierde, Freude und Anziehung des Gegenübers ist dazu da, in vollen Zügen genossen zu werden.
Wie können Verliebte ihre Wünsche und Bedürfnisse äußern, ohne den Partner zu überfordern oder zu verletzen?
In Phase 2 - ich nenne es einfach mal so – sollte man Wünsche, Bedürfnisse usw. durchaus äußern. Und das gelingt am besten, wenn man sich klar und wertschätzend ausdrückt. Es ist wichtig, den anderen nicht mit Vorwürfen oder Forderungen zu konfrontieren, sondern Ich-Botschaften zu nutzen, um zu erklären, was einem selbst wichtig ist. Dabei sollte man darauf achten, dass man den Partner nicht in die Defensive drängt, sondern stattdessen vermittelt, dass die eigenen Wünsche und Bedürfnisse kein Angriff, sondern ein Ausdruck der eigenen Persönlichkeit sind.
Wie kann man erkennen, ob frühe Konflikte in einer Beziehung gesund sind oder auf tiefere Probleme hindeuten?
Frühe Konflikte können ein Zeichen dafür sein, dass beide Partner sich ehrlich und authentisch zeigen.
Entscheidend ist, ob diese Konflikte respektvoll ausgetragen werden und man das Gefühl hat, danach einander besser zu verstehen. Wenn die Auseinandersetzungen hingegen von Verletzungen, Schuldzuweisungen oder einem Ungleichgewicht in der Beziehung geprägt sind, kann dies ein Hinweis auf tieferliegende Probleme sein.
Etablierung einer gesunden Streitkultur
Sie sagen: "Jetzt streitet euch doch endlich mal!". Warum ist Streit für eine gesunde Beziehung wichtig?
Streit ist deshalb so wichtig, weil er ein Ausdruck von Engagement und Lebendigkeit in der Beziehung ist. Indem man Konflikte offen austrägt, zeigt man, dass einem die Beziehung nicht gleichgültig ist und dass man bereit ist, für die eigenen Bedürfnisse und Grenzen einzustehen. Konflikte schaffen die Möglichkeit, Missverständnisse aufzuklären, und fördern damit langfristig die Nähe und das Verständnis füreinander. Allerdings sollte der Streit kein lauter und unfairer sein, dann wirkt er destruktiv, sondern eher in Form einer konstruktiven Auseinandersetzung geführt werden.
Wie kann man in einer Beziehung eine gesunde Streitkultur etablieren, ohne dass Konflikte eskalieren?
Eine gesunde Streitkultur basiert darauf, dass beide Partner lernen, ihre Emotionen zu regulieren und respektvoll zu bleiben, auch wenn es hitzig wird.
Man sollte darauf achten, den anderen nicht persönlich anzugreifen oder alte Verletzungen immer wieder hervorzuholen, sondern stattdessen beim aktuellen Thema bleiben. Wichtig ist es, den Fokus darauf zu legen, Lösungen zu finden, anstatt Recht haben zu wollen. Da wir alle nicht perfekt sind, sollte auch Verzeihen immer eine Option sein.
Was sind die Grundregeln, die man im Umgang mit Konflikten beachten sollte?
Grundregeln im Umgang mit Konflikten beinhalten Respekt, Zuhören und das Vermeiden von Schuldzuweisungen. Man sollte stets von den eigenen Gefühlen sprechen, statt den anderen für diese verantwortlich zu machen. Ein weiterer zentraler Punkt ist es, Konflikte nicht aufzuschieben, sondern sie zeitnah zu klären, damit sie sich nicht zu größeren Problemen aufstauen.
Wie kann man mit unterschiedlichen Streitstilen umgehen, um konstruktive Lösungen zu finden?
Unterschiedliche Streitstile sind normal und bieten die Chance, voneinander zu lernen. Der Schlüssel liegt darin, die Bedürfnisse und Reaktionen des anderen zu verstehen und anzunehmen. Wenn der eine Partner etwa mehr Zeit braucht, um sich zu sortieren, sollte der andere dies respektieren. Ebenso sollte der impulsivere Partner lernen, sich in Geduld zu üben. Es hilft, sich darauf zu konzentrieren, wie man gemeinsam Lösungen finden kann, anstatt die Unterschiede als Hindernis zu sehen.
Konfliktvermeidung und Vertrauensförderung in Beziehungen
Was kann man tun, wenn der Partner Konflikten aus dem Weg geht oder sich emotional verschließt?
Wenn ein Partner dazu neigt, Konflikten auszuweichen oder sich emotional zurückzuziehen, ist es wichtig, Geduld und Verständnis zu zeigen. Man sollte vermitteln, dass man für eine offene und vertrauensvolle Kommunikation bereit ist, ohne den anderen unter Druck zu setzen. Kleine Schritte und positive Erfahrungen können helfen, nach und nach eine Atmosphäre zu schaffen, in der auch schwierige Themen angesprochen werden können. Es sollte allerdings auf keinen Fall so weit gehen, dass die Partnerin/der Partner so geduldig und verständnisvoll wird, dass sich das Ganze zu einer "Therapiebeziehung" entwickelt!
Wie kann man lernen, Streit als Chance für Wachstum und tiefere Verbindung zu sehen?
Es hilft, sich bewusst zu machen, dass Streit ein natürlicher Bestandteil jeder Beziehung ist und oft die Möglichkeit bietet, ein tieferes Verständnis füreinander zu entwickeln.
Anstatt Konflikte als Bedrohung zu empfinden, sollte man sie als Gelegenheit betrachten, mehr über sich selbst und den anderen zu lernen. Wenn man Konflikte konstruktiv löst, stärkt das die emotionale Bindung und das Vertrauen.
Wie kann man in einer konfliktscheuen Partnerschaft das Vertrauen fördern, damit schwierige Themen angesprochen werden?
In einer konfliktscheuen Partnerschaft ist es entscheidend, durch eine wertschätzende Haltung zu zeigen, dass schwierige Themen kein Drama auslösen müssen. Man sollte den anderen ermutigen, sich zu öffnen, indem man selbst ehrlich über die eigenen Gefühle und Wünsche spricht. Es geht darum, eine Atmosphäre zu schaffen, in der Offenheit nicht mit Vorwürfen oder Streit gleichgesetzt wird.
Was sind die Unterschiede zwischen Streitvermeidung und einer authentischen, konfliktfreien Beziehung, und wie kann man eine gesunde Balance finden?
Streitvermeidung bedeutet oft, dass wichtige Themen unter den Teppich gekehrt werden, was auf Dauer zu emotionaler Distanz führen kann.
Eine authentische, konfliktfreie Beziehung hingegen beruht auf gegenseitigem Verständnis und der Fähigkeit, Konflikte zu klären, bevor sie eskalieren. Eine gesunde Balance erreicht man, indem man Konflikten nicht ausweicht, sondern sie offen anspricht, ohne sie unnötig zu dramatisieren.
Welche Auswirkungen haben eine toxische Harmonie und das Vermeiden von Konflikten auf emotionale Nähe und Intimität?
Toxische Harmonie führt dazu, dass wichtige Themen unausgesprochen bleiben und dadurch eine unsichtbare Distanz zwischen den Partnern entsteht. Wenn Konflikte dauerhaft vermieden werden, geht ein Stück der Authentizität verloren, weil beide Partner nicht mehr ehrlich zeigen, was sie wirklich bewegt. Auf Dauer führt eine chronische Konfliktvermeidung zu einem Erkalten der Beziehung. Die Partner leben sich auseinander und irgendwann wird sich getrennt.