"Jetzt müssen wir Margots Stimme sein!"

Ihr Tod hinterlässt eine unschließbare Lücke: Margot Friedländer war eine der letzten mahneden Zeitzeugen des Holocausts. Wir sprachen mit ihrer Freundin und Wegbegleiterin Düzen Tekkal über die Botschafterin der Menschlichkeit – und wie der Kampf gegen das Vergessen nun weitergeht.

Autorin: Kathrin Mechkat

Margot Friedländer
Margot Friedländer nahm ihre Rolle als Zeitzeugin ernst und versuchte  bis zuletzt so viele  Menschen wie möglich zu erreichen.© HÁWAR.help gemeinnütziger e.V.

Wo sie auftauchte, hingen die Menschen an ihren Lippen. Margot Friedländer (†103) galt in Deutschland als wichtigste Stimme, die an den Holocaust erinnerte, den Massenmord an über sechs Millionen Juden durch die Nazis. Als sie im Alter von 88 Jahren nach über sechs Jahrzehnten im Exil in New York City nach Berlin zurückkehrte, steckte die Trägerin des Großen Verdienstkreuzes ihre ganze Energie in ihre Mission gegen das Vergessen. 

Sie teilte ihre Geschichte und machte damit auf das Unfassbare aufmerksam. "Ich bin zurückgekommen, um Euch die Hand zu halten. Es darf nie wieder geschehen!" Buchstäblich bis zum letzten Atemzug besuchte die Grande Dame Schulen, gab Interviews und mahnte in TV-Dokumentationen und auf Veranstaltungen: "Es gibt kein christliches Blut, kein jüdisches Blut, kein muslimisches Blut – es gibt nur menschliches Blut." 

Doch wie verändert sich unsere Erinnerungskultur, wenn Zeitzeuginnen wie Margot Friedländer uns nicht mehr aus erster Hand berichten können? Das fragten wir Hawar.help-Gründerin und Aktivistin Düzen Tekkal (46), die der engagierten Holocaust-Überlebenden in ihren letzten Lebensjahren nahe stand.

Wie behalten Sie Ihre Freundin Margot in Erinnerung?

Sie war bis zum Schluss voller Entschlossenheit, Tatendrang, Liebe. Sie wusste, wie wertvoll das Leben ist und gab jedem Moment Intensität. Margot war bei Veranstaltungen immer die Erste und die Letzte. Ihr Stehvermögen war der Wahnsinn! Bei ihr ging es immer um alles. Wenn sie einen Raum betrat, war das magisch. Zuletzt saß sie mit Sauerstoffmaske im Rollstuhl. Davon schickte sie mir noch ein Foto. Ihr Geist wollte unbedingt weitermachen, aber der Körper gab auf.

Inniger Moment: Düzen Tekkal und Margot Friedländer beim Deutschen Filmpreis 2024 in Berlin.© sebastian_gollnow

Margot Friedländer: "Das ist alles nicht wichtig. Das Menschsein zählt."

Wie lernten Sie sich überhaupt kennen?

Sie wurde mir über Freunde vorgestellt und es war sofort eine Verbindung zwischen uns da. Ich war sehr aufgeregt und wollte ihr erzählen, wen sie da gerade kennenlernt hat. (lacht) Ich holte also aus und sie meinte nur: "Das ist alles nicht wichtig. Das Menschsein zählt." Damit hat sie mir gleich beim Kennenlernen eine Lehre erteilt: "Du musst nicht beschreiben, wer Du bist und was Du machst. Es reicht, dass Du hier bist, und ich freue mich darüber." Jeder Satz von ihr war geprägt von tiefer Weisheit.

Nun ist ihre Stimme verstummt. Wie werden wir künftig gedenken? 

Jetzt müssen wir selbst die Stimme sein! Erinnern ist für uns als Gesellschaft überlebenswichtig. Gerade in Zeiten, in denen die Shoah in Abrede gestellt wird und Populismus und Spaltung sich immer mehr verbreiten. Sich zu erinnern bedeutet für mich auch, sich an couragierten Menschen wie Margot ein Beispiel zu nehmen. Sie stand für Menschlichkeit und streckte allen friedlich und vorbehaltslos ihre zarte Hand entgegen. Dass sie gegangen ist, ist traurig. Aber wir haben leider nicht lange Zeit zu trauern! Ihre unbändige Kraft sollte wegweisend für jeden und jede von uns sein. Margots Rückkehr nach Deutschland war ein unbezahlbares Geschenk. Es ist also das Mindeste, dass wir mutig aufstehen und Haltung zeigen.

Was müsste sich strukturell ändern?

Wir brauchen eine werteorientierte Bildungsinitiative. Der Geschichtsunterricht und die Lehrpläne müssen dringend überarbeitet werden. Exkursionen zu Gedenkstätten und das Lesen von Zeitzeugenberichten sollten Pflicht sein. Mit unserem Verein "German Dream" sind wir regelmäßig an Schulen in ganz Deutschland unterwegs und beobachten großes Unwissen. Hätte ich damals mit meiner Klasse nicht die Gedenkstätte Bergen-Belsen besucht oder Bücher von Holocaustüberlebenden gelesen, wäre ich nicht berührt worden. Wir Deutschen haben eine ganz besondere Verantwortung und müssen jetzt für eine Digitalisierung des größten Dramas der Weltgeschichte sorgen. Gleichzeitig brauchen wir Regularien für Social Media.

Düzen Tekkal: "Wir müssen aktiv sein, erinnern, sensibilisieren und vor allem den Empathiemuskel stärken."

Können Sie das genauer erklären? 

Auf Social Media geht es um einen Kampf der Kulturen. Schülerinnen und Schüler informieren sich heutzutage über TikTok. Und ausgerechnet da lassen tagtäglich Islamisten und Rassisten ihren Sch ... los und vergiften die Köpfe unserer Jugendlichen. Während wir uns unterhalten, werden bei TikTok Videos geteilt, in denen junge Leute aufgefordert werden, den Raum zu verlassen, wenn an Juden gedacht wird. Und das wird auch gefeiert mit Likes. Da müssen wir aktiv sein, erinnern, sensibilisieren und vor allem den Empathiemuskel stärken.

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